Kaja Kallas und ihr Vater – Die Geschichte einer Wendehalssippe
Von Anton Gentzen
Die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas war am Dienstag in Berlin und die Tagesschau sang Lobeshymnen auf die "scharfe Kritikerin des Kreml". Kallas sei "eine der sichtbarsten und aktivsten westlichen Regierungschefinnen seit Beginn der russischen Invasion".
Nicht weniger überschwänglich waren auch die Schlagzeilen anderer deutscher Medien. Das Handelsblatt verstieg sich gar zu der Behauptung, Kallas sei "die Frau, vor der Wladimir Putin Angst hat".
Das "Ich-räche-meinen-Opa"-Syndrom
Was daran stimmt, ist, dass Estland – von Kallas angeführt – ohne jede Not eine beachtliche antirussische Aktivität entwickelt hat und seit mindestens zwei Jahren eine Vorreiterrolle bei allerlei russophoben Provokationen einnimmt. Zu nennen sind da verbale Ausfälle, die permanente Kriegsrhetorik, der Abriss der letzten verbliebenen sowjetischen Soldatendenkmäler, die Schließung von Grenzübergängen und vieles mehr, worin Tallinn die Initiative ergriff und vorpreschte. Auch den Vorstoß des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, in den Ukraine-Krieg direkt mit Bodentruppen einzugreifen, unterstützt Kallas.
Was treibt Kallas und ihren politischen Anhang bei alldem an?
Erstaunlich ist besonders im Fall Estlands, dass sich dort in fast zwei Jahrzehnten nach dem Zerfall der Sowjetunion niemand an den Denkmälern und dem Schulunterricht in russischer Sprache gestört hatte. Solange Politiker an der Macht waren, die die angebliche "sowjetische Okkupation" selbst erlebt und daran dem nationalistischen Narrativ zufolge "gelitten" hatten, war die Existenz dieser Dinge eine Selbstverständlichkeit und niemandem ein Dorn im Auge. Auch gute und für beide Seiten einträgliche Handelsbeziehungen mit dem großen Nachbarn waren unter den Fittichen der älteren Generation Realität.
Kaum kommt jedoch eine Generation an die Macht, deren "Leiden" in der Sowjetunion maximal darin bestanden haben kann, dass der Brei im Kindergarten nicht süß genug war, werden Konflikte vom Zaun gebrochen, Handelsbeziehungen zerstört und den Symbolen des Antifaschismus der Krieg angesagt. Was ist das? Ein ähnliches "Ich-räche-meinen-Opa"-Syndrom, wie wir es von Annalena Baerbock und Ursula von der Leyen kennen?
Die steile Parteikarriere einer "unterdrückten Familie"
Die Lobhudeleien der Tagesschau deuten in diese Richtung. Der Teaser des Artikels, der mich zu Recherchen herausgefordert hat, lautet wie folgt:
"Estlands Regierungschefin Kallas wird heute in Berlin erwartet. Mit demonstrativer Gelassenheit macht sie sich für Widerstand gegen den Kreml stark. Repressionen durch Russland kennt sie aus ihrer Familiengeschichte."
Repressionen durch Russland also … In der Familiengeschichte.
Nun, dass explizit von "Repressionen durch Russland" die Rede ist, kann natürlich auch dem ins Bodenlose gefallenen intellektuellen Niveau in den Redaktionsstuben der "wichtigsten deutschen Nachrichtensendung" geschuldet sein. Vielleicht weiß die Autorin ja tatsächlich nicht, dass Russland zwischen 1922 und 1991 nur eine der 15 Teilrepubliken der Sowjetunion war und darin auch am wenigsten zu melden hatte. Stalin war Georgier, unter Chruschtschow und Breschnew hatten ukrainische Clans das Land fest im Griff. Wahrscheinlicher ist es indes, dass dies dem propagandistischen Grundsatz geschuldet ist, alles Schlechte in der Sowjetunion Russland anzulasten, während alles Positive die Ukraine reklamieren darf.
Aber das nur am Rande, widmen wir uns lieber dem Kern der Aussage. Was für Repressionen will denn Frau Kallas in ihrer Familiengeschichte entdeckt haben?
Kaja selbst ist 1977 in Tallinn geboren, beim Zerfall der Sowjetunion war sie gerade 14. Ihr Vater heißt Siim Kallas und ist den engeren Kreisen der an europäischer Politik interessierten Deutschen als kurzzeitiger Ministerpräsident Estlands (2002/2003), Vizepräsident der Europäischen Kommission und Kommissar für Verkehr (2010–2014) bekannt. Aktuell ist er Abgeordneter des estnischen Parlaments Riigikogu.
Vielleicht war ja Herr Papa ein großer Widerstandskämpfer und musste unter "sowjetischer Okkupation" Repressionen erleiden?
Geboren wurde Siim Kallas im Jahr 1948 in Tallinn. Tallinn muss in Sibirien liegen, denn die Tagesschau zitiert Kaja Kallas mit den Worten:
"Als Russland Estland besetzte, deportierten sie Esten nach Sibirien und brachten Russen in das Land. Meine eigene Familie wurde auch nach Sibirien deportiert."
Entweder liegt Tallinn in Sibirien (Spoiler: Nein, tut es nicht) oder Kallas erzählt Märchen über ihre Familiengeschichte, denn als der kleine Siim geboren wurde, war seine Familie nicht in Sibirien, sondern in der estnischen Hauptstadt. 1948 lebte Stalin noch, bis zu den Amnestien und Rehabilitierungen der politisch Unterdrückten durch seine Nachfolger Berija und Chruschtschow würde noch ein halbes Jahrzehnt vergehen, sodass man auch nicht von einer zwischenzeitlichen Rückkehr der "deportierten Familie" ausgehen kann.
Es ist atemberaubend, welch steile Karriere Siim Kallas im sowjetischen Estland hinlegen konnte. Nach dem Studium im Fach "Finanzwesen und Kredit" an der Universität Tartu war er von 1975 bis 1979 im Finanzministerium der Estnischen Sowjetrepublik tätig und stieg bald zum Direktor des Vorstands der Estnischen Sparkassen auf, der er bis 1986 blieb. Von 1986 bis 1989 war er stellvertretender Herausgeber der Parteizeitung Rahva Hääl ("Stimme des Volkes") und von 1989 bis 1991 Vorsitzender der Zentralunion der estnischen Gewerkschaften.
All das ging natürlich nur mit dem Parteibuch in der Tasche. Mit dem Parteibuch der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, wohlgemerkt, der einzigen, die es gab. Erst nach 1991 wurde aus dem linientreuen Kommunisten mit Vorzeigekarriere ein kapitalistischer Reformer und glühender Europäer. So glühend, dass er von Deutschland mit dem "Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband" ausgezeichnet ist.
Der einzige in der Familie von Kallas väterlicherseits, bei dem die Sowjetmacht jeden Grund für Repressionen gehabt hätte, ist der Großvater von Siim mütterlicherseits, der Urgroßvater von Kaja. Eduard Alver hieß der Mann und war in der Zeit der ersten unabhängigen Republik nicht nur Polizeipräsident des Landes, sondern auch noch Vorsitzender der estnischen Faschisten und ihres Bundes. Will die Ministerpräsidentin ihn also rächen?
Da ist nur ein kleines Problem: Eduard Alver starb im August 1939, ein Jahr vor dem Beitritt Estlands zur Sowjetunion. Die Sowjetmacht konnte ihn keinen Repressionen mehr unterziehen, so sehr sie es auch gewollt hätte.
Kajas Großvater mütterlicherseits – SS-Gehilfe und hitlerdeutscher Kollaborateur
Was an Kaja Kallas Legende wahr ist, ist die Geschichte ihrer Mutter. Diese war Tochter eines Mitglieds der estnischen "Selbstverteidigung" Omakaitse, einer Organisation, die während der deutschen Besatzung von 1941 bis 1944 mit Hitlers Truppen kollaborierte und Hilfstruppe der SS war. Omakaitse betrieb die Todeslager für Juden, unter anderem das KZ Jägala.
Schon vor dem Angriff der deutschen Truppen im Sommer 1941 ergriffen die estnischen "Selbstverteidiger" die Initiative und erschossen nach Abzug der Roten Armee alle Juden, Kommunisten, Kolchos-Aktivisten und Vertreter der Sowjetmacht, derer sie habhaft werden konnten. Estnische Historiker gehen von Hunderten derart vollstreckter "Urteile" in Südestland aus.
Im Jahr 1941 bildete Generaloberst Küchler, Befehlshaber der 18. Armee, sechs estnische Garde-Einheiten aus einzelnen Omakaitse-Einheiten auf freiwilliger Basis mit einem Einjahresvertrag. Sie wurden anschließend in drei östliche Bataillone und eine östliche Kompanie (die 657.) umorganisiert. Am 1. Oktober 1942 wurden die Omakaitse dem Oberbefehlshaber des rückwärtigen Bereichs der Heeresgruppe Nord, dem General der Infanterie Franz von Rox, unterstellt. Gleichzeitig blieben die Kasernenabteilungen unter dem Kommando des Chefs der Ordnungspolizei und wurden später in Sicherungsbataillone umgewandelt.
In dieser Eigenschaft waren sie, wie schon erwähnt, auch für den Betrieb der Todeslager verantwortlich und trugen dazu bei, dass Estland bereits Anfang 1942 als "judenfrei" gemeldet wurde.
Was genau der Großvater mütterlicherseits von Kaja Kallas sich persönlich hat zuschulden kommen lassen, bedarf weiterer Recherchen, aber es ist klar, dass die Mitgliedschaft in einer solchen Organisation nicht folgenlos bleiben konnte und nicht ungestraft bleiben durfte. Im März 1949 wurde er daher mit Ehefrau und Kajas Mutter in der Tat nach Sibirien umgesiedelt. Zehn Jahre später durfte die Familie zurückkehren, Kajas Mutter durfte Medizin studieren und arbeitete zeitlebens als Ärztin in Tallinn.
Geschichtsvergessene Revanchistin? Opportunistin auf der Karriereleiter? Die zwei Gesichter der Kaja Kallas
Wer diese Lebensgeschichte als grundlose Repression bezeichnet, hat nicht verstanden, welches Übel der Hitlerfaschismus und jede Form der Zusammenarbeit mit ihm war. Anders als in Estland weiß man es in Deutschland noch, zumindest sofern es um die Vernichtung von Juden geht. Darum verschweigen Tagesschau und Co auch, worum es wirklich geht, wenn Kaja Kallas über die angeblichen "russischen Repressionen" in ihrer Familiengeschichte faselt.
Um auf die anfängliche Frage zurückzukommen: Ja, es spricht viel dafür, dass wir auch bei der estnischen Regierungschefin das Phänomen der Enkel und Urenkel sehen, die ihre faschistischen Vorfahren rächen und deren "Sache" fortsetzen wollen. Und doch glaube ich, dass sie, anders als Baerbock und von der Leyen, eher eine Opportunistin ist, wie ihr Wendehals-Vater; eine, die das Fähnchen nach dem Wind hängt und stets ihren persönlichen Vorteil sucht. Zufall oder nicht, ein Job in europäischen Strukturen steht für sie schon in Aussicht.
Im August 2023 war Kallas in einen Skandal rund um die Geschäfte ihres Ehemannes mit Russland verstrickt. Dessen Unternehmen betrieb den Handel mit dem Nachbarland weiterhin so, als gäbe es keine Sanktionen und als würde die Frau im Haus nicht täglich antirussische Härte zeigen und von jedem Geschäftsmann den Abbruch jeder Beziehung zum Nachbarn fordern. Alles, was Kallas dazu zu sagen hatte, war, dass sie nicht das Geringste über die Geschäfte ihres Mannes wisse. Wer es glaubt …
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