Deutsche Innenstädte: Nur noch Shopping-Wüsten oder Zonen des Verfalls?
Von Dagmar Henn
Wenn selbst der Dachverband des Einzelhandels klagt, in Deutschland drohe eine Verödung der Innenstädte, dann ist das der Abschluss einer Entwicklung, die vor Jahrzehnten begonnen hat und die jetzt an einem Punkt angelangt ist, an dem nur noch mühsam überhaupt eine Lösung in Sicht ist.
Wenn jetzt infolge der Insolvenz großer Ketten in vielen Innenstädten der Leerstand zunimmt und Fußgängerzonen langsam, aber sicher die Attraktivität verlieren, dann vollzieht sich das nach, was in den Subzentren der Städte, an den einstigen Mittelpunkten der Stadtviertel, schon viel früher geschah. In meiner Zeit im Münchner Stadtrat hatten wir oft mit den Problemen zu tun, die dadurch entstehen. Wenn es im Stadtviertel kein Wirtshaus mehr gibt, keine Bäcker, keinen Metzger, keine Post, dann passiert dort genau dasselbe wie in den Dörfern, die ebenfalls längst keine Versorgungsinfrastruktur mehr haben. Die Menschen orientieren sich um. Und das Leben im Viertel schwindet, so wie es auf den Dörfern geschwunden ist.
Die Lösung, die damals versucht wurde, waren öffentliche Subventionen. Vor allem über die Mieten – wenn es städtische Gebäude gab, in denen Ladenlokale waren, keine großen Ketten, dann wurden sie günstiger vermietet. Man versuchte, örtliche Wirtschaften am Leben zu halten. Subzentren bekamen beispielsweise durch Wochenmärkte eine kleine Attraktion. Ebenso wie durch gelegentliche Veranstaltungen im Freien. Aber schon damals galt das zum Teil bereits auch für die Innenstadt. Im Untergeschoss des Rathauses (ich schreibe in der Vergangenheitsform, weil ich nicht sehen kann, wie der derzeitige Stand ist) befanden sich eine Notenhandlung, ein Bernsteingeschäft, ein Herrenausstatter, ein Sportausstatter, zwei Metzger und ein Imbiss.
Man möge es mir verzeihen, wenn die Aufzählung nicht vollständig ist. Das Sportgeschäft hat 2020 geschlossen, nach über hundert Jahren an diesem Ort. Wie viel von den anderen Läden noch übrig ist, weiß ich nicht. Aber im näheren Umfeld, ebenfalls in städtischen Gebäuden, befanden sich ein Antiquitätengeschäft und ein Bürstenladen, Richtung Viktualienmarkt dann ein weiterer Laden, der auf Kämme spezialisiert war. Alles kleinere Geschäfte, die zu den sonst in der Münchner Fußgängerzone üblichen Mieten nicht hätten existieren können, die aber zur Atmosphäre der Umgebung beitrugen, genauso wie Veranstaltungen wie der jährliche Weihnachtsmarkt.
All das war längst nicht mehr umsonst zu erhalten. Alle Innenstädte bundesweit tendierten zu einer Ansammlung genau der gleichen Filialisten; große Ketten, die überall die gleichen Waren anboten und überall gleich aussahen, sodass im Grunde nur noch schwer zu erkennen war, in welcher Stadt man sich eigentlich befand. Allerdings kaufen die Menschen in Deutschland vorwiegend billig und schnell, was jedoch ein wenig mit der Arbeitsintensität und dem Einkommen zu tun hat.
Tatsächlich steht das Flanieren in der Innenstadt, um Einkäufe zu erledigen und zwischendrin vielleicht irgendwo einen Kaffee zu trinken oder zu essen, ganz oben auf der Liste der Dinge, die gestrichen werden, wenn das Geld knapp ist. Onlinehandel hat vor allem einen Vorzug: Egal, wie viel Werbung nebenbei getrieben wird – es ist bei Weitem nicht so unangenehm wie mit viel zu wenig Geld und dem Ziel, einen einzelnen Gegenstand zu erwerben, durch die Stadt zu laufen und ständig Dinge zu sehen, die man sich ohnehin nicht leisten kann. Aber es sind die Momente, in denen der öffentliche Raum als der eigene erlebt wird, die die Identifikation mit der Stadt erzeugen. Und ohne Identifikation entfällt auch das ehrenamtliche Engagement, ob sozial oder politisch.
Die Funktion der Innenstadt besteht also nicht schlicht darin, Verkaufsflächen für Waren zur Verfügung zu stellen, jedoch sorgte die Entwicklung insbesondere der Mieten dafür, dass sich diese Funktion immer weiter in den Vordergrund drängte. Corona hat dann die ersten tiefen Breschen in die Menge der großen Einzelhändler geschlagen, und das Angebot an Verweilorten massiv ausgedünnt.
Die Abwärtsbewegung kennt jedoch von sich aus kein Ende. Sobald größere Leerstände vorhanden sind, ändert sich die gesamte Atmosphäre, und da die Wohnungsnot immer schärfer wird, tauchen alle sozialen Probleme schnell in den Innenstädten auf. Wenn erst eines dieser Gebäude mit Junkies belegt ist, wird es schwer, die ganze Gegend wiederzubeleben. Diese Entwicklungen konnte man schon vor längerer Zeit in den ehemaligen industriellen Zentren Großbritanniens beobachten, wo sich im Zuge der Finanzkrise 2008 ganze Innenstädte in Zonen des Verfalls verwandelten. Wenn sich neue Geschäfte dann eher in Einkaufszentren abseits statt in der einst zentralen Innenstadt ansiedeln, hat das auch viel mit der Sicherheit zu tun, die dort einfacher zu gewährleisten ist. Aber kein Einkaufszentrum ist jemals öffentlicher Raum, es wird nie die Mischung von wirtschaftlichem, kulturellem und politischen Leben, selbst religiösem Leben bieten wie eine wirkliche Innenstadt.
Die Kaufhäuser, die einst die kleinen Einzelhändler verschlangen, wurden nun selbst verschlungen, aber nicht nur vom Onlinehandel, mindestens ebenso sehr von den steigenden Mieten. "Signa", der letzte Blutsauger, der sich an den verbliebenen deutschen Kaufhäusern sättigte, verfuhr nach dem gleichen Muster wie seine Vorgänger: die Immobilien getrennt betreiben und von den Kaufhäusern überhöhte Mieten verlangen. Dass das bei dem gleichzeitigen Druck der Online-Konkurrenz nicht gut gehen konnte, war abzusehen. Und wie bei den kleinen Einzelhändlern war es die Belastung durch die steigenden Mieten, die das ganze Geschäftsmodell zum Scheitern brachte.
Subventionen sind da auf Dauer keine Lösung. Das ging mit ein paar kleinen Läden hier und da, aber allein in der Münchner Fußgängerzone waren es zwei Kaufhäuser von Oberpollinger (die schon längst zu Karstadt gehörten), ein weiteres Karstadt-Haus und ein Kaufhof, also fünf Gebäude mit sehr großen Verkaufsflächen, zu denen dann auf der Strecke Richtung Hauptbahnhof der ehemalige Hertie und ein weiterer Kaufhof hinzukommen. Soll nun die Kommune die Mieten für all diese Häuser subventionieren, nur damit die Immobilieneigner noch ihren Schnitt machen?
Nachdem die Nachfrage nach Büroflächen noch tiefer gefallen ist als die nach Kaufhausflächen, lassen sich an dieser Stelle auch keine Büros ansiedeln. Wohnungen? Bei diesen Bodenpreisen absolut undenkbar. Wirklich lösbar ist auch das nur dann, wenn das gesamte Thema der Mieten und der Bodenpreise angegangen wird. Das wäre aber keinesfalls kommunal möglich, das bräuchte politische Rückendeckung im Bund, die Konzepte wie eine Enteignung leer stehender Kaufhäuser und eine Nutzung durch Einkaufsgenossenschaften stützen müsste.
Nein, das ist jetzt kein garantiert funktionierendes Konzept, aber im Kleinen, in den Stadtvierteln, wird an diesem Problem bereits seit Jahrzehnten herumgedoktert, mit mäßigem Erfolg. Wenn einige Kernbestandteile herausbrechen – und das war womöglich nur ein Postamt – dann ist es beim besten Willen schwierig, das Leben in einem derartigen Zentrum auch nur auf unterem Niveau zu halten.
Wenn man fragt, wo sich Menschen wohlfühlen, was ihnen Freude bereitet, ist das Ergebnis bezogen auf die Gestaltung der Innenstädte heute nicht anders als vor Jahrzehnten. Die Wirklichkeit hat sich aber immer weiter davon entfernt. Man unterschätzt die Dimension des Problems gewaltig, wenn man es auf die wirtschaftliche Lebensfähigkeit von Einzelhandelsgeschäften reduziert. Damit eine Stadt lebensfähig ist, braucht es nicht nur eine funktionsfähige Infrastruktur, eine Stadt muss ihren Bewohnern etwas bedeuten. Ob und wie viel sie ihnen bedeutet, hängt sehr stark davon ab, was sie ihnen zu bieten hat, ob sie sich in ihr heimisch fühlen können. Die Krise des Einzelhandels ist nur ein Teil einer Krise, die bis in die Selbstwahrnehmung der Gesellschaft reicht. Eine Krise der Lebensfreude, die in einer völlig partikularisierten Meute von Konsumenten nicht mehr wirklich funktioniert.
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