Frankreich greift durch: Haftstrafe wegen fehlender Verurteilung des 7. Oktober in einem Flugblatt
Von Pierre Levy
Eine am 19. April wegen des Verdachts der "Verherrlichung des Terrorismus" von der Polizei vorgeladene Kandidatin für die Europawahlen.
Eine Fraktionsvorsitzende, die vier Tage später unter demselben Vorwand ein ähnliches Verfahren durchläuft.
Ein Verbot für den Gründer der betroffenen Partei, der bei den Präsidentschaftswahlen im April 2022 den dritten Platz belegt hatte, am 18. April wegen "Gefahr der Störung der öffentlichen Ordnung" seine Rede an der Universität Lille zu halten (Dieser durfte – nachdem ihm in den Wochen zuvor das gleiche Missgeschick passiert war – anschließend auch nicht in der Stadt sprechen).
Ein prominenter Gewerkschaftsführer, der zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt wurde, weil seine Organisation ein Flugblatt verbreitet hatte, das als zu nachsichtig gegenüber der palästinensischen Hamas-Bewegung eingestuft worden war. Genauer gesagt, weil der Text darauf abzielte, "die moralische Missbilligung" des Angriffs vom 7. Oktober in Israel abzuschwächen, und keine "explizite oder implizite Verurteilung" des Angriffs enthielt. Bestraft also nicht nur für das, was geschrieben wurde, sondern auch ... für das, was nicht geschrieben wurde.
Überall in Frankreich werden Dutzende von Verfahren eingeleitet, denen häufig schwere Verurteilungen wegen Meinungsäußerungsdelikten folgten, selbst auf die Gefahr hin, das Recht zu beugen. Vor einigen Monaten schließlich wurden die kaskadenartig Demonstrationen zur Unterstützung des palästinensischen Volkes verboten.
Das hier gezeichnete Bild erinnert unweigerlich an Ungarn, wie es von den Gegnern des Ministerpräsidenten Viktor Orbán beschrieben wird, die ihn regelmäßig beschuldigen, den Rechtsstaat zu untergraben und die öffentlichen Freiheiten zu knebeln. Tatsächlich spielen sich diese Ereignisse jedoch in Frankreich ab, wobei die von Jean-Luc Mélenchon gegründete Partei La France insoumise und der Generalsekretär des Departements Nord des Allgemeinen Gewerkschaftsbunds CGT – neben vielen anderen – die Hauptbetroffenen sind.
Ein derartiger politisch-juristischer Druck ist seit dem Algerienkrieg (1954 bis 1962) beispiellos. Der Innenminister hat keinen Hehl daraus gemacht, dass er die Strafverfolgung systematisieren will. Mehrere zionistische Organisationen reichen immer mehr Klagen ein und erwirken damit zahlreiche Schadensersatzzahlungen.
Dieses Klima der allgemeinen Bedrohung ist keine französische Ausnahme. Es existiert in vielen Ländern der Europäischen Union, ohne dass Brüssel, das sich so schnell als "Verteidiger des Rechtsstaats" aufspielt und der ganzen Welt Lektionen erteilt, etwas dagegen einzuwenden hätte.
Und das aus gutem Grund: Die offizielle deutsche These, wonach die "Solidarität mit Israel" eine Frage der "Staatsräson" sei, ist inzwischen unter den europäischen Führern weit verbreitet. Selbst wenn einige von ihnen eine Ausnahme bilden und die offizielle Anerkennung des Staates Palästina in Erwägung ziehen. Diese bleiben jedoch eine kleine Minderheit (darunter Spanien, Irland, Slowenien ...).
Ausverkauf des gaullistischen Erbes
Das Assoziierungsabkommen zwischen Tel Aviv und der EU wurde nicht gekündigt oder ausgesetzt, obwohl durch die israelischen Bombenangriffe Hunderttausende von Gaza-Bewohnern getötet oder verletzt wurden bzw. vermisst werden und die Versorgung mit Wasser, Lebensmitteln und Medikamenten blockiert wurde.
Für die deutsche Führung bedeutet die These von den Verbindungen zum jüdischen Staat als Teil der "Staatsräson" in Wirklichkeit die Instrumentalisierung der historischen Schuld des Holocausts, um Israel, die Bastion des Westens in der strategischen Region des Nahen Ostens, zu unterstützen. Paris teilt nun diese aktive Unterstützung und vollendet damit den Ausverkauf des gaullistischen Erbes in dieser Frage.
Es gibt vielleicht noch einen weiteren Grund für die Hartnäckigkeit, mit der die französischen Behörden diejenigen belästigen, die sich empören und öffentlich anprangern, was wie ein echter Völkermord aussieht. Die Verfolgungen und Drohungen könnten durchaus darauf abzielen, von der Schwere der Ereignisse und der Verantwortung abzulenken. Um auf diese Weise einen tragischen Vergleich mit dem Krieg in der Ukraine zu vermeiden.
Bestenfalls leise Vorbehalte aus Paris zu den Bombardements in Gaza
Natürlich darf man die Legitimität der von Moskau im Februar 2022 ausgelösten Operation infrage stellen. Natürlich sind die Bombardements und Kämpfe an den Frontlinien tödlich. Aber Russland hat niemals geplant, eine ganze Zivilbevölkerung verhungern zu lassen und zu massakrieren, ebenso wenig wie die Infrastruktur und die öffentlichen Dienste wie Gesundheit oder Bildung sowie Orte, die für die Existenz eines Volkes stehen, systematisch zu zerstören.
Im besten Fall äußern Paris, Berlin und Brüssel – ebenso wie Washington – einige Vorbehalte gegenüber der israelischen Brutalität, die kaum Konsequenzen haben. Ganz anders verhalten sie sich gegenüber Russland, gegen das ein vierzehntes Sanktionspaket verhängt werden soll. Und die Waffenlieferungen an Kiew schwellen an.
All dies treibt das "Messen mit zweierlei Maß" auf ein selten erreichtes Niveau. Und veranlasst die französische Führung zweifellos dazu, die Repressionen gegen diejenigen zu verstärken, die sich gegen diesen tragischen Kontrast auflehnen könnten.
In der Zwischenzeit haben die französischen Anhänger von Benjamin Netanjahu, wie der Abgeordnete Meyer Habib, der die israelische und die französische Staatsbürgerschaft besitzt, freie Hand. Der Mann, ein bekennender Befürworter des Siedlungsbaus und enger Vertrauter des ultrarechten Flügels der Likud-Partei, war einst wegen Körperverletzung verurteilt worden. Er wurde als einer der Vertreter der im Ausland lebenden Franzosen ins Parlament gewählt. Im Oktober letzten Jahres bezeichnete er die gesamte Bevölkerung von Gaza als "Krebsgeschwür".
Er wurde in keiner Weise behelligt.
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